Schwerpunktthema
Wer 1968 Mitte 20 war, gehört heute zur Klientel der SAW. Die 68er-Generation hat andere Lebensentwürfe und Ansprüche als die Generationen vor ihr.
Ein Winterabend in der Siedlung Scheuchzerstrasse. Lebhaftes Stimmengewirr im schummrig beleuchteten Gemeinschaftsraum, begleitet von den Rolling Stones im Hintergrund. Ein Flyer im Eingangsbereich warnt die Nachbarn im Haus: «Wenn 68er feiern, kann es laut werden», steht da.
Doch scheint der Lärm niemanden zu stören – umso weniger, als fast die Hälfte der Mieterinnen und Mieter am Apéro dabei ist. Organisiert haben den Anlass Ursula und Pierre Brauchli aus dem neunten Stock. Laut eigenem Bekunden gehören sie zur sogenannten «Bodega-Fraktion» im Haus – benannt nach dem gleichnamigen Szenelokal, in dem man früher revolutionäre Diskussionen führte und sich auch heute noch manchmal trifft. 1968 war Pierre Brauchli 25 Jahre alt.
2015, als der pensionierte Grafiker mit seiner Frau eine Dreizimmerwohnung in der frisch sanierten Siedlung Scheuchzerstrasse bezog, hatte er präzis das durchschnittliche Einzugsalter der SAW-Mieterinnen und -Mieter: 73 Jahre. Die Wohnung war für Brauchlis «so etwas wie ein Sechser im Lotto». Denn ihre frühere Altbauwohnung im Seefeld wurde saniert und wäre für das Ehepaar danach nicht mehr bezahlbar gewesen. Dass er nun unter lauter älteren Menschen wohnt, störe ihn nicht, sagt Brauchli, denn: «Ich bin ja selber alt.» Und ja, er sei ein alter 68er. Durch die Ernüchterung der späteren Jahre etwas wehmütig geworden zwar, aber den alten Überzeugungen grundsätzlich treu. «Immer noch interessiert an politischer Aktualität und kulturellem Geschehen, gern am Diskutieren oder Festen – und sicher etwas kritischer, als man es von alten Menschen bisher erwartet hat.» Brauchli schmunzelt. «Motziger sind wir», ergänzt Uschi Stähli, mit gut 66 Jahren eine der Jüngsten in der «Bodega-Fraktion», lachend.
Darauf müsse sich die SAW gefasst machen, jetzt wo die 68er- und bald auch die 80er-Generation in Alterswohnungen einziehe. Und auf etwas lärmigere Aktivitäten: «Ich habe vor, an meinem kommenden 67sten Geburtstag im Gemeinschaftsraum eine richtige Party steigen zu lassen», grinst die ehemals Jugendbewegte. «Und zwar mit einem DJ.»
Normalerweise trifft man sich im Gemeinschaftsraum zu ruhigeren Anlässen. Der von Emil Halter (81) aus der achten Etage initiierte Jassnachmittag ist zum Beispiel sehr beliebt, ebenso ein regelmässig stattfindender Kafi- und Gipfelitreff. Halter organisiert auch Samichlausnachmittage und Ausflüge zur Besichtigung von Dampflokomotiven. Mit der 68er-Bewegung habe er gar nichts am Hut gehabt, erklärt der ehemalige Mechanikermeister dezidiert: «Aufräumen hätte man mit diesen Krawallanten sollen!» Heute lebt er mit einigen der Letztgenannten im gleichen Haus – wie fühlt sich das an? Man habe keine Probleme, meint Halter. Er jedenfalls bemühe sich stets um ein gutes Miteinander.
Ganz reibungslos scheint die Kommunikation zwischen eher traditionell denkenden Leuten und der «Bodega-Fraktion» jedoch nicht immer abzulaufen. Die umtriebige Ursula Brauchli (60) ist zwar wie ihr Mann sehr glücklich in der Siedlung Scheuchzerstrasse, eckt aber zuweilen an. Manchmal findet sie ein anonymes Schreiben im Briefkasten, das ihre Aktivitäten in ruppigem Ton kommentiert. «Unser Hausgang ist keine Müllhalde», heisst es da etwa – weil Brauchli ein paar nicht mehr benötigte, aber brauchbare und gepflegte Sachen mit der Aufschrift «zum Mitnehmen» dort deponiert hat. Spielt sich da ein kleiner Kulturclash ab?
Nein, meint Lilo Farrér, die sich als Sozialdienst-Verantwortliche bei der SAW unter anderem um Konflikte zwischen Mietenden kümmert. «Im Gegenteil: In der Siedlung Scheuchzerstrasse gibt es bisher überhaupt keine entsprechenden Meldungen. Man scheint dort gut miteinander zurechtzukommen – trotz unterschiedlicher Weltsichten.» Marianne Lobrinus, Leiterin des Bereichs Wohnen, bestätigt diesen Befund. Ihr fällt überdies auf, dass in neueren Siedlungen, wo entsprechend zahlreiche Mieterinnen und Mieter der 68er-Generation wohnen, besonders viele selbstorganisierte Aktivitäten stattfinden.
Den Kennenlern-Apéro in der Scheuchzerstrasse beim Neueinzug nach der Sanierung 2015 hat Lobrinus noch in bester Erinnerung: «Es war ein richtiges Fest – und zum ersten Mal hörten wir an einem solchen Anlass Jazz und Rock als Hintergrundmusik.» Mit der neuen Klientel würden sich allmählich auch die Ansprüche an die soziokulturelle Animation in der SAW verändern, ist Lobrinus überzeugt: «Es wird auf lange Sicht eher weniger um fixe Angebote gehen. Vielmehr wollen wir Ideen aufgreifen, Eigenaktivitäten anregen und dafür Raum und Unterstützung zur Verfügung stellen.»
Ganz reibungslos scheint die Kommunikation zwischen eher traditionell denkenden Leuten und der «Bodega-Fraktion» jedoch nicht immer abzulaufen. Die umtriebige Ursula Brauchli (60) ist zwar wie ihr Mann sehr glücklich in der Siedlung Scheuchzerstrasse, eckt aber zuweilen an. Manchmal findet sie ein anonymes Schreiben im Briefkasten, das ihre Aktivitäten in ruppigem Ton kommentiert. «Unser Hausgang ist keine Müllhalde», heisst es da etwa – weil Brauchli ein paar nicht mehr benötigte, aber brauchbare und gepflegte Sachen mit der Aufschrift «zum Mitnehmen» dort deponiert hat. Spielt sich da ein kleiner Kulturclash ab? Nein, meint Lilo Farrér, die sich als Sozialdienst-Verantwortliche bei der SAW unter anderem um Konflikte zwischen Mietenden kümmert. «Im Gegenteil: In der Siedlung Scheuchzerstrasse gibt es bisher überhaupt keine entsprechenden Meldungen.
Man scheint dort gut miteinander zurechtzukommen – trotz unterschiedlicher Weltsichten.» Marianne Lobrinus, Leiterin des Bereichs Wohnen, bestätigt diesen Befund. Ihr fällt überdies auf, dass in neueren Siedlungen, wo entsprechend zahlreiche Mieterinnen und Mieter der 68er-Generation wohnen, besonders viele selbstorganisierte Aktivitäten stattfinden. Den Kennenlern-Apéro in der Scheuchzerstrasse beim Neueinzug nach der Sanierung 2015 hat Lobrinus noch in bester Erinnerung: «Es war ein richtiges Fest – und zum ersten Mal hörten wir an einem solchen Anlass Jazz und Rock als Hintergrundmusik.» Mit der neuen Klientel würden sich allmählich auch die Ansprüche an die soziokulturelle Animation in der SAW verändern, ist Lobrinus überzeugt: «Es wird auf lange Sicht eher weniger um fixe Angebote gehen. Vielmehr wollen wir Ideen aufgreifen, Eigenaktivitäten anregen und dafür Raum und Unterstützung zur Verfügung stellen.»
«Raum für Eigenaktivitäten ist bei uns ein wichtiges Thema», sagt Ilka Tegeler, Bereichsleiterin Bau und Unterhalt bei der SAW. «Für neue Siedlungen sind zum Beispiel die Waschküchen im Erdgeschoss vorgesehen; sie sollen Tageslicht haben und mit Sitzgelegenheiten ausgestattet sein. So können dort Treffpunktmöglichkeiten entstehen», erklärt die Architektin, die mit ihrem dreiköpfigen Team für zwei zurzeit entstehende Neubauten sowie mehrere zukünftige Projekte verantwortlich ist. Gerade im Zusammenhang mit neuen Bauvorhaben denke man auch über neuere Formen des Zusammenlebens nach – wie beispielsweise Clusterwohnen: «Mieterinnen und Mieter hätten in einer kleinen Wohneinheit ihren Privatbereich mit eigenem Bad und eigener Kleinküche», so Tegeler.
«Darüber hinaus gäbe es neben den bisher vorhandenen Gemeinschaftsräumen auch andere Orte gemeinsamer Aktivitäten – wie etwa eine grosse Küche, ein Nähatelier oder eine Bibliothek.» Für die Scheuchzerstrasse wäre die Bibliothek eine gute Idee. Denn eine informelle Büchertauschbörse nach dem Prinzip «Bring a book, take a book» gibt es schon; genutzt wird dazu der grosszügig gestaltete Eingangsbereich. «Das funktioniert super», sagt Wuwi Erhardt-Stierli, die im ersten Stock wohnt und sich zu jenen 68erinnen zählt, die damals «dabei gewesen sind – nicht beim Steineschmeissen, aber trotzdem mittendrin». Man habe gelernt, sich zu wehren und für seine Anliegen einzustehen, ist die 71-Jährige überzeugt.
Andreas Dreier, Leiter des Bereichs Spitex in der SAW, bekommt den Widerspruchsgeist der 68er-Generation bereits zu spüren. «Wir erhalten heute zahlreichere und vor allem differenziertere kritische Rückmeldungen von unserer Klientel, als das früher üblich war», sagt der 34-Jährige, der diese Veränderung grundsätzlich positiv sieht. «Wenn wir uns auf die Auseinandersetzung einlassen, steigert das die Qualität unserer Leistungen.
Denn die Klientinnen und Klienten nehmen nicht mehr alles dankbar an – oder machen die Faust im Sack, wenn etwas nicht passt. Sondern sie weisen genau auf verbesserungswürdige Punkte hin und fordern die Qualität ein, die wir in unseren Informationsbroschüren versprechen.»
Im Gemeinschaftsraum der Siedlung Scheuchzerstrasse geht der Apéro seinem Ende zu. Es ist inzwischen 22 Uhr, und nur noch der «harte Kern» von rund einem Dutzend Leuten sitzt fröhlich schwatzend um ein paar zusammengerückte Tische. «I Can't Get No Satisfaction» läuft im Hintergrund. Einige Füsse der «Bodega-Fraktion» wippen dazu im Takt.
«Raum für Eigenaktivitäten ist bei uns ein wichtiges Thema», sagt Ilka Tegeler, Bereichsleiterin Bau und Unterhalt bei der SAW. «Für neue Siedlungen sind zum Beispiel die Waschküchen im Erdgeschoss vorgesehen; sie sollen Tageslicht haben und mit Sitzgelegenheiten ausgestattet sein. So können dort Treffpunktmöglichkeiten entstehen», erklärt die Architektin, die mit ihrem dreiköpfigen Team für zwei zurzeit entstehende Neubauten sowie mehrere zukünftige Projekte verantwortlich ist. Gerade im Zusammenhang mit neuen Bauvorhaben denke man auch über neuere Formen des Zusammenlebens nach – wie beispielsweise Clusterwohnen: «Mieterinnen und Mieter hätten in einer kleinen Wohneinheit ihren Privatbereich mit eigenem Bad und eigener Kleinküche», so Tegeler. «Darüber hinaus gäbe es neben den bisher vorhandenen Gemeinschaftsräumen auch andere Orte gemeinsamer Aktivitäten – wie etwa eine grosse Küche, ein Nähatelier oder eine Bibliothek.» Für die Scheuchzerstrasse wäre die Bibliothek eine gute Idee. Denn eine informelle Büchertauschbörse nach dem Prinzip «Bring a book, take a book» gibt es schon; genutzt wird dazu der grosszügig gestaltete Eingangsbereich. «Das funktioniert super», sagt Wuwi Erhardt-Stierli, die im ersten Stock wohnt und sich zu jenen 68erinnen zählt, die damals «dabei gewesen sind – nicht beim Steineschmeissen, aber trotzdem mittendrin». Man habe gelernt, sich zu wehren und für seine Anliegen einzustehen, ist die 71-Jährige überzeugt.
Andreas Dreier, Leiter des Bereichs Spitex in der SAW, bekommt den Widerspruchsgeist der 68er-Generation bereits zu spüren. «Wir erhalten heute zahlreichere und vor allem differenziertere kritische Rückmeldungen von unserer Klientel, als das früher üblich war», sagt der 34-Jährige, der diese Veränderung grundsätzlich positiv sieht. «Wenn wir uns auf die Auseinandersetzung einlassen, steigert das die Qualität unserer Leistungen.
Denn die Klientinnen und Klienten nehmen nicht mehr alles dankbar an – oder machen die Faust im Sack, wenn etwas nicht passt. Sondern sie weisen genau auf verbesserungswürdige Punkte hin und fordern die Qualität ein, die wir in unseren Informationsbroschüren versprechen.»
Im Gemeinschaftsraum der Siedlung Scheuchzerstrasse geht der Apéro seinem Ende zu. Es ist inzwischen 22 Uhr, und nur noch der «harte Kern» von rund einem Dutzend Leuten sitzt fröhlich schwatzend um ein paar zusammengerückte Tische. «I Can't Get No Satisfaction» läuft im Hintergrund. Einige Füsse der «Bodega-Fraktion» wippen dazu im Takt.
Adresse
Siedlung Scheuchzerstrasse
Scheuchzerstrasse 85
8006 Zürich
Öffentlicher Verkehr
Bus 33 bis Haltestelle Scheuchzerstrasse
Zusätzliche Angebote
Gemeinschaftsraum
SAW-eigene Spitex
Wohlfühlbad
WebsiteDetailprospektGrundrissbeispiele
Anzahl | Wohntyp | Wohnfläche | subventioniert | selbsttragend | |
---|---|---|---|---|---|
6 | 1,5 Zimmer | 46 m2 | 979 | 1177 | |
13 | 2 Zimmer | 55 m2 | 1068 | 1285 | |
25 | 2.5 Zimmer | 60 m2 | 1157 | 1392 | |
10 | 2,5 Zimmer gross | 72 m2 | 1335 | 1606 | |
16 | 3,5 Zimmer | 86 m2 | 1425 | 1713 |
«Bodega-Fraktion: So nennt sich unser freundschaftlicher Kreis von einigen lieben Menschen hier im Haus, weil die meisten von uns früher zur Stammkundschaft der ‹Bodega Española› im Zürcher Niederdorf gehörten und in dieser alten Beiz auch heute noch manchmal anzutreffen sind. Als junge Frau habe ich viele Abende dort verbracht, wenn ich nicht gerade im Spital war. Und natürlich an anderen einschlägigen Orten: Odeon, Select, Malatesta, Blutiger Daumen und wie die Beizen alle hiessen, in denen oft bis zur Polizeistunde heftig diskutiert,
geraucht, gelacht und getrunken wurde. Wir schimpften über das Establishment, demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und begehrten gegen bürgerliche Moralvorstellungen auf. Die waren ja damals recht rigide: Das Zusammenleben ohne Trauschein war untersagt, Homosexualität wurde im Versteckten gelebt, lange Haare waren pfui, und am See gab es überall Schilder mit der Aufschrift ‹Rasen betreten verboten›.
Ja, die 68er-Jahre. Ich habe sie als wilde und schöne Zeit in Erinnerung. 1971 lernte ich – in der ‹Bodega› – meinen Mann Frankie kennen. Er war ein Sunnyboy. Kam strahlend herein, sagte: ‹Hi, Fans!›, und ich fand ihn ziemlich blöd. Zwei Jahre später heirateten wir. Er ist ein sehr, sehr lieber Mensch. Manchmal redet er ein bisschen viel – ein guter Freund nennt ihn den ‹Wörter-Tsunami›. Aber wir haben uns lieb und schauen gut zueinander.
Die Wohnung hier in der Scheuchzerstrasse ist ein grosses Glück für uns. Das alte Zuhause beim Schulhaus Kügeliloo zu verlassen, fiel mir zwar schwer, denn ich war dort sehr verwurzelt. Aber 2013 hatte ich zwei schwere Rückenoperationen, danach konnte ich die Wohnung wegen der Treppen kaum mehr verlassen. Hier kann ich mich wieder selbständiger bewegen, ja sogar ohne Hilfe im Quartier herumfahren mit meinem neuen elektrischen Rollstuhl. Das geniesse ich sehr, denn Freiheit ist mir das Wichtigste im Leben! Körperlich geht es mir nicht besonders gut. Mein linker Arm ist lahm, ich habe kaum mehr Kraft und sowieso alle möglichen Gebresten. Vor ein paar Jahren hatte ich sogar einen Herzstillstand – die da oben wissen wohl nicht so ganz, was sie wollen mit mir. Trotzdem: Ich gebe nicht auf und mache so viel wie möglich selber: einmal pro Woche den Boden aufwischen zum Beispiel – mit dem Wischmopp im Rollstuhl sitzend wie ein venezianischer Gondoliere. Ich habe auch gern Gäste und gehe unter Leute, wenn immer ich kann.
Ich glaube, wir alten Achtundsechziger sind in manchem ein bisschen anders als andere Mieterinnen und Mieter hier. Mit uns kann man nicht über Unterhaltungssendungen reden, und darüber, dass Beni Thurnheer doch viel netter war als Roman Kilchsperger. Wir sehen selten fern, verfolgen aber das politische Geschehen aufmerksam. Stramm vereinsmässig organisierte Aktivitäten sind uns unsympathisch. Dafür treffen wir uns zum Apéro, feiern gern und interessieren uns für Neues in der Kultur. Und wenn uns etwas nicht passt, sagen wir es deutlich. Ja, ganz allgemein fühlen wir uns wohl jünger als die ‹traditionellen› Alten und benehmen uns auch so. Mit vielen Leuten hier im Haus – auch älteren – pflege ich eine gute Nachbarschaft. Anderen, bei denen ich Ablehnung spüre, weiche ich lieber aus. Es gibt hier 70 Mietparteien, da können nicht alle befreundet sein.»
«Bodega-Fraktion: So nennt sich unser freundschaftlicher Kreis von einigen lieben Menschen hier im Haus, weil die meisten von uns früher zur Stammkundschaft der ‹Bodega Española› im Zürcher Niederdorf gehörten und in dieser alten Beiz auch heute noch manchmal anzutreffen sind. Als junge Frau habe ich viele Abende dort verbracht, wenn ich nicht gerade im Spital war. Und natürlich an anderen einschlägigen Orten: Odeon, Select, Malatesta, Blutiger Daumen und wie die Beizen alle hiessen, in denen oft bis zur Polizeistunde heftig diskutiert, geraucht, gelacht und getrunken wurde. Wir schimpften über das Establishment, demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und begehrten gegen bürgerliche Moralvorstellungen auf. Die waren ja damals recht rigide: Das Zusammenleben ohne Trauschein war untersagt, Homosexualität wurde im Versteckten gelebt, lange Haare waren pfui, und am See gab es überall Schilder mit der Aufschrift ‹Rasen betreten verboten›.
Ja, die 68er-Jahre. Ich habe sie als wilde und schöne Zeit in Erinnerung. 1971 lernte ich – in der ‹Bodega› – meinen Mann Frankie kennen. Er war ein Sunnyboy. Kam strahlend herein, sagte: ‹Hi, Fans!›, und ich fand ihn ziemlich blöd. Zwei Jahre später heirateten wir. Er ist ein sehr, sehr lieber Mensch. Manchmal redet er ein bisschen viel – ein guter Freund nennt ihn den ‹Wörter-Tsunami›. Aber wir haben uns lieb und schauen gut zueinander.
Die Wohnung hier in der Scheuchzerstrasse ist ein grosses Glück für uns. Das alte Zuhause beim Schulhaus Kügeliloo zu verlassen, fiel mir zwar schwer, denn ich war dort sehr verwurzelt. Aber 2013 hatte ich zwei schwere Rückenoperationen, danach konnte ich die Wohnung wegen der Treppen kaum mehr verlassen. Hier kann ich mich wieder selbständiger bewegen, ja sogar ohne Hilfe im Quartier herumfahren mit meinem neuen elektrischen Rollstuhl.
Das geniesse ich sehr, denn Freiheit ist mir das Wichtigste im Leben! Körperlich geht es mir nicht besonders gut. Mein linker Arm ist lahm, ich habe kaum mehr Kraft und sowieso alle möglichen Gebresten. Vor ein paar Jahren hatte ich sogar einen Herzstillstand – die da oben wissen wohl nicht so ganz, was sie wollen mit mir. Trotzdem: Ich gebe nicht auf und mache so viel wie möglich selber: einmal pro Woche den Boden aufwischen zum Beispiel – mit dem Wischmopp im Rollstuhl sitzend wie ein venezianischer Gondoliere. Ich habe auch gern Gäste und gehe unter Leute, wenn immer ich kann.
Ich glaube, wir alten Achtundsechziger sind in manchem ein bisschen anders als andere Mieterinnen und Mieter hier. Mit uns kann man nicht über Unterhaltungssendungen reden, und darüber, dass Beni Thurnheer doch viel netter war als Roman Kilchsperger. Wir sehen selten fern, verfolgen aber das politische Geschehen aufmerksam. Stramm vereinsmässig organisierte Aktivitäten sind uns unsympathisch. Dafür treffen wir uns zum Apéro, feiern gern und interessieren uns für Neues in der Kultur. Und wenn uns etwas nicht passt, sagen wir es deutlich. Ja, ganz allgemein fühlen wir uns wohl jünger als die ‹traditionellen› Alten und benehmen uns auch so. Mit vielen Leuten hier im Haus – auch älteren – pflege ich eine gute Nachbarschaft. Anderen, bei denen ich Ablehnung spüre, weiche ich lieber aus. Es gibt hier 70 Mietparteien, da können nicht alle befreundet sein.»
Viele Alters-Wohngemeinschaften scheitern daran, dass die Beteiligten zu wenig WG-Erfahrung mitbringen. Das war bei Ihnen nicht so, trotzdem gab es dieses Zerwürfnis. Halten Sie das für eine individuelle Geschichte, oder denken Sie heute grundsätzlich anders über Alters-WGs als Wohnform?
Über zwei Drittel der SAW-Mieterschaft sind weiblich, also schadet es nicht, wenn wir das Wohnen im Alter hier vor allem aus Frauensicht erörtern. Was ist denn diesbezüglich Ihrer Meinung nach wichtig?
Ihre Vorstellungen entsprechen dem sogenannten Clusterwohnen, das aktuell in Diskussion ist. Ein anderes beliebtes Thema sind Mehrgenerationenprojekte, also Wohnkomplexe, in denen Familienwohnungen mit Single- oder Alterswohnungen vereint sind. Was halten Sie davon?