«Ich bin keine, die flieht»
Vor knapp zwei Jahren hat Romy Krebs ihren Mann verloren. Einsam fühlt sich die engagierte Mieterin in der Siedlung Seefeld dank guter Beziehungen selten. Wenn doch, dann singt sie.
«Marcel war mein zweiter Mann. Bei unserer Hochzeit waren wir schon über 40, gemeinsame Kinder waren da kein Thema mehr. Unsere Beziehung war sehr symbiotisch, was nicht heisst, dass wir isoliert gelebt haben. Natürlich hatten wir Kontakt zu anderen und zu unseren Familien, aber wir waren schon sehr aufeinander eingestellt.
Marcel hatte schon Rückenschmerzen, als wir uns kennengelernt haben. Als die Schmerzen immer schlimmer wurden, gab er sein Geschäft, einen Malerbetrieb, schliesslich auf. Allerdings erst, nachdem die Sanität ihn mehrmals von der Baustelle getragen hatte. Mein Mann war halt ein bisschen ein Dickkopf. Bei der Arbeit, beim Sport, bei allem, was er ge-macht hat: Er hat immer Vollgas gegeben. Als seine Vitalität schwand, war das für ihn sehr schwer zu akzeptieren. Er ging sogar noch zum Krafttraining, als es ihm körperlich schon schlecht ging. Er hatte diesen unglaublichen Willen und diese Idee im Kopf, dass es doch noch gehen müsse.
Sein Tod kam nicht überraschend, Marcel war vorher sechs Monate im Spital und in einer Pflegeeinrichtung. Er wurde wegen einer Spondylitis eingeliefert. Das ist eine bakterielle Entzündung der Wirbelsäule, die sich später im ganzen Körper ausgebreitet hat. Die Ärzte waren machtlos. Diese sechs Monate waren für uns beide sehr schwierig – wir wussten, dass er nicht mehr nach Hause kommen würde. Er hat sehr damit gehadert, nicht mehr Teil unserer Zweiergemeinschaft hier in unserer Wohnung zu sein. Mir ging es in dieser Zeit körperlich gar nicht gut, ich hatte unerklärliche Magenschmerzen, Probleme mit den Ohren und litt an Schlaflosigkeit. In der Nacht drehten sich meine Gedanken, ich fragte mich, wie lange er noch so leiden und ich diese Situation noch aushalten muss. Denn es halten beide viel aus in einem solchen Moment, beide auf eine andere Weise. Als er schliesslich starb, war das zwar ein riesiger Verlust, aber in gewisser Weise auch eine Erleichterung.
Nach seinem Tod, als der letzte Behördengang getan war und ich endlich loslassen konnte, fiel ich in ein Loch. Da war plötzlich so viel Zeit! Dass ich schon immer aktiv war, hat mir in diesen Tagen sehr geholfen. Ich bin technisch ein wenig begabt und helfe anderen gerne. Ich organisiere zusammen mit zwei anderen Mieterinnen auch unsere monatlichen Kaffeetreffs und Feste in der Siedlung. Deswegen kenne ich hier im Haus alle, wirklich alle, und habe auch sonst im Quartier viele soziale Beziehungen. Wichtig waren auch zwei Freundinnen, die hier in der Nähe wohnen. Sie haben mich emotional unterstützt, und die Unternehmungen mit ihnen boten mir Ablenkung.
Nein, geflohen bin ich nie vor dem Alleinsein. Ich bin keine, die flieht. Mir ist es auch wichtig, zugeben zu können, dass es damals schwierig war und bis heute manchmal schwierig ist. Meistens spüre ich es bei kleinen Dingen, die im Zusammenleben selbstverständlich sind, dass er mir fehlt. Am Morgen beim Aufstehen zum Beispiel, wenn niemand da ist, der mir «Guten Morgen» sagt. Oder auch abends beim Zubettgehen. In diesen Momenten singe ich. Ich kann überhaupt nicht singen, ich weiss, es klingt jämmerlich. Aber es hilft mir, und ich habe das Gefühl, es tue meiner Stimme gut. Sie hat sich verändert, als es mir damals nicht gut ging. Alle anderen Beschwerden sind mit der Zeit verschwunden, aber dieses Brüchige in meiner Stimme ist geblieben.
«Ich rate allen, sich frühzeitig ein gutes Umfeld zu schaffen.»
Dass Marcel körperlich zunehmend eingeschränkt war, war mit ein Grund, warum wir uns bei der SAW angemeldet hatten. Wir wussten, dass wir hier bei Bedarf pflegerische Unterstützung bekommen. Dass wir in diese Siedlung hier ziehen konnten, istein Glücksfall. Ich war im Quartier schon stark verankert, wir wohnten nur ein paar Strassen weiter und ich hatte mich während vieler Jahre in der Nachbarschaftshilfe engagiert. Als es meinem Mann sichtbar schlechter ging, haben mir viele, die auch hier leben, ihre Unterstützung angeboten. Sicher auch, weil ich selbst immer viel investiert habe in die Nachbarschaft hier im Haus. Wenn ich anderen einen Rat geben müsste, wäre es dieser: frühzeitig in Freundschaften und Beziehungen investieren, nicht erst, wenn man alt ist. Wenn die schwierige Situation erst eintritt, ist es zu spät.»