«Mein Hund hiess früher Jaguar»
Günther Bitter (*1932) ist im Kreis 6 aufgewachsen und lebt seit elf Jahren in der SAW-Siedlung Irchel. Der Witwer und mehrfache Grossvater besass früher ein Lederwarengeschäft und arbeitete bis weit über das Pensionsalter hinaus. Heute führt er viermal täglich seine Papillonhündin Gina aus. Sie ist 17, und Günther Bitter sieht einige Parallelen zwischen alten Hunden und alten Menschen.
«Als unser letzter Papillon mit 16 Jahren starb, war ich schon fast 70 und wollte keinen Hund mehr anschaffen. In unserem Alter wäre das unvernünftig, sagte ich zu meiner Frau. Sie gab mir recht, wollte aber trotzdem einen und liess nicht locker. Ein halbes Jahr hielt ich tapfer dagegen, aber man weiss ja, wie schwierig es ist, einer Frau zu widersprechen – und wenn es die eigene ist, dann gute Nacht. Also ging ich gottergeben mit, als sie sich eines Tages ein sechs Monate altes Papillonweibchen anschauen wollte, das damals <Jaguar> hiess; die Züchterin hatte die tolle Idee gehabt, alle Hunde nach Automarken zu benennen. Gina, wie wir sie später nannten, kam aus einem ungewollten Wurf, und ich sah gleich, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Papillons heissen ja so, weil ihre Ohren wie Schmetterlingsflügel vom Kopf abstehen, und das war bei ihr nicht der Fall. Diesbezüglich kann man mir so schnell nichts vormachen, denn eine der Spezialitäten meines Lederwarengeschäfts war Hundezubehör, deshalb bin ich Mitglied der Schweizerischen Kynologischen Gesellschaft (SKG). Über 30 Jahre lang hatte ich einen Verkaufsstand an praktisch jeder Ausstellung für Rassehunde. Meine Gina hätte dort als stammbaumloses Tier nichts zu suchen gehabt – und ist trotzdem ein wunderbares, kluges Hundeli. Wie viel sie mir bedeutet, wurde mir neulich klar, als es ihr sehr schlecht ging und man nicht wusste, ob sie es nochmals schafft. Ich hätte wohl alles Menschenmögliche getan, um sie noch nicht gehen lassen zu müssen.
Als meine Frau vor 13 Jahren starb, musste ich mich ans Alleinsein gewöhnen. Das Schwierigste dabei war nicht der Haushalt, das Einkaufen oder das Kochen. Nein, die grösste Herausforderung war und ist es, sich allein an den Tisch zu setzen und zu essen. Solange Gina bei mir ist, muss ich das aber nie, denn sie leistet mir bei jedem Essen Gesellschaft. Und entgegen aller Erziehungsratschläge der Hundespezialisten kriegt sie dabei jeweils den einen oder anderen Leckerbissen ab. Sie ist sowieso immer in meiner Nähe und merkt stets, was ich als Nächstes tun werde. Aha, wir machen einen Ausflug, sagen ihre Augen, wenn ich die Reisetasche zur Hand nehme, in der sie im Tram oder im Zug Platz nehmen wird. Morgen zum Beispiel fahren wir mit ein paar Kollegen aus dem Computercorner des nahen Alterszentrums Oberstrass nach Luzern.
Gina ist ein alter Hund, wie ich ein alter Mensch bin. Wir haben beide unsere Gebresten und arrangieren uns damit. Ihre Zähne sind marod, und sie mag nicht mehr so weit laufen wie früher; bei mir hat der Schlaganfall vor einiger Zeit ein paar Spuren hinterlassen. So fühlen wir uns beide am sichersten in unserer schönen Wohnung und auf gewohnten Wegen rund um die Siedlung. Oft begegnen wir jemandem, der im Park auf einem Bänkchen sitzt, dann gibt’s einen kleinen Schwatz, und Gina wird gestreichelt. Du hast es gut, heisst es dann vielleicht, du musst jeden Tag raus, dein Hund hält dich fit. Das sagen sie aber nur, wenn die Sonne scheint – bei Regen nie. Die Ohren stellt Gina immer noch nicht korrekt, aber das ist gerade das Besondere an ihr.»